Schmerzensgeld erreicht fast die Million: Deutsche Gerichte sprechen endlich höhere Schmerzensgeld-Summen zu
Mit Urteil des Oberlandesgerichtes (OLG) Oldenburg am 18. März 2020 wurde in Deutschland bereits zum zweiten Mal ein Schmerzensgeld in Höhe von 800.000 Euro zugesprochen. Dabei handelte es sich um die Bestätigung des vom Landgericht (LG) Aurich am 23.11.2018 gefällten Urteils über die zu zahlende Summe. Am 06.11.2019 hatte auch das LG Gießen die Forderung nach Erhöhung eines Schmerzensgeldes auf 800.000 Euro als angemessen beurteilt.
In beiden Fällen handelt es sich zwar nicht um Geburtsschadensfälle, es waren aber ein Kind und ein Jugendlicher im Alter von 5 bzw. 17 Jahren von ärztlichen Behandlungsfehlern betroffen, die gravierende Folgen für die jungen Menschen und ihre Familien hatten.
Ausmaß der Schädigung und Alter der Geschädigten beeinflussen die Entscheidung maßgeblich
Das LG Aurich hatte über eine angemessene Entschädigung für eine körperliche Schwerstbehinderung zu entscheiden. Aufgrund der verspäteten Behandlung einer bakteriellen Hirnhautentzündung 2011 mussten bei dem damals Fünfjährigen beide Unterschenkel amputiert und zahlreiche Hauttransplantationen vorgenommen werden. Das Gericht hob in seiner Urteilsbegründung hervor, dass der Betroffene die andauernden Schmerzen und psychischen Folgen sowie die noch zu erwartenden physischen und psychischen Spätfolgen sein ganzes Leben lang erleiden und jeden Tag bewusst erleben müsse. Und dass die Beeinträchtigungen und Behinderungen deshalb an Tiefe und Umfang kaum noch zu steigern seien.
Ähnlich begründete das LG Gießen seine Entscheidung im Fall eines Jugendlichen, der 2013 nach einer Verletzung beim Fußballspiel an der Nase operiert werden musste. Durch den fehlerhaften Anschluss eines Beatmungsgerätes kam es bei dem Eingriff zu einer 25-minütigen Sauerstoffunterversorgung. Diese hatte schwerste Hirnschädigungen zur Folge, und der damals Siebzehnjährige liegt seitdem mit appalischem Syndrom in einem so genannten Wachkoma. Er ist rund um die Uhr auf Pflege angewiesen, und es ist ausgeschlossen, dass sich an diesem Zustand in den nächsten Jahren etwas ändert. Seine Entscheidung für das bemerkenswert hohe Schmerzensgeld begründet das Gericht auch mit dem jungen Alter des Betroffenen.
Weitere entscheidende Argumente für die Bemessung der Schmerzensgeldsumme
Beide Gerichte sahen nicht nur in der Tatsache, dass es sich um schwerwiegende medizinische Fehler gehandelt hat, Schadensersatz und Schmerzensgeldforderungen gerechtfertigt. Sie hoben auch hervor, dass zwei weitere Umstände unbedingt schmerzensgelderhöhend berücksichtigt werden müssen:
1. Das zögerliche Regulierungsverhalten der Haftpflichtversicherung
Diesem Argument ist unbedingt zuzustimmen. Bereits 1999 hat das OLG Frankfurt hervorgehoben, dass das Schmerzensgeld dann erhöht werden muss, wenn die Versicherung ihre „Machtposition als wirtschaftlich stärkere Partei geradezu in unanständiger Weise ausnutzt“. Und es stellte weiter fest, dass bei den Haftpflichtversicherungen „gehäuft die Einstellung vorherrscht, der Geschädigte sei ein lästiger Bittsteller“. Die beiden aktuellen Urteile stärken diese Position.
2. Die familiäre Belastung durch die Pflege, Unterstützung und Versorgung des behinderten Kindes
Auch diesem Argument ist uneingeschränkt zuzustimmen und es sollte besonders betont werden. Denn die weitreichenden Folgen für das Familienleben sowie für das soziale Leben aller Beteiligten sind unbedingt beachtenswert und können nicht durch bloße Schadensersatzleistungen abgegolten werden.
Gerade deshalb und wenn das Schmerzensgeld wie von der Rechtsprechung immer wieder betont „Genugtuung“ und einen „Ausgleich“ schaffen soll, muss meiner Meinung nach bei geburtsgeschädigten Kindern in Zukunft ein Schmerzensgeld von 1 Millionen Euro und mehr ausgeurteilt werden.
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Ein Beitrag von:
Dr. Roland Uphoff, M.mel.
Fachanwalt für Medizinrecht,
Geburtsschadensrecht und Arzthaftungsrecht