Gastbeitrag über Trauerarbeit von Müttern und Vätern: Wenn der Schmerz und die Trauer bleiben
Glaubt man dem Volksmund, so braucht es ein ganzes Dorf, um ein Kind groß zu ziehen. Doch was braucht es an Unterstützung, wenn in einer Familie das Unfassbare geschieht – wenn das eigene Kind stirbt?
Schauen wir zurück in die Dorfgemeinschaft früherer Zeiten. Diese Gemeinschaft und der Glaube der Religion gab den jeweiligen Familien Halt und Raum für ihren Schmerz und die Trauer. Rituale wie Totenwache, Trauerfeier und Leichenschmaus ergaben ihren Sinn. Ein Jahr Trauerjahr. Trauer als sichtbares Zeichen des Abschieds und integrierter Bestandteil des Lebens wurde durch die dörflichen Rituale sichtbar, d.h. die Hinterbliebenen wurden wahrgenommen und durften unter dem Schutz der Dorfgemeinschaft trauern.
Was deutlich wird ist, dass Trauer, also Abschied nehmen des geliebten Kindes, ein Prozess ist, der viele Phasen und Abschnitte beinhaltet. Hinzu kommt, dass die natürliche Reihenfolge, der Ältere, ein Elternteil geht vor dem Jüngeren, dem Kind, nicht eingehalten wurde. Das Unfassbare braucht viel Zeit, Geduld und ganz viel Fürsorge.
In einer modernen Gesellschaftsform wie unserer, die auf Funktionalität ausgerichtet ist, hat Trauer allerdings nicht mehr viel Platz und nach einigen Monaten wünschen sich das Umfeld und vielleicht auch die Trauernden selbst wieder Normalität und den Blick in die Zukunft zu richten. Wenn dies nicht gelingt, scheinen die Mütter und Väter irgendwie krank und schwach zu sein!?!
Doch wie sehen die Prozesse der Trauer und der Trauerbegleitung genau aus? Verschiedene Phasen spiegeln den fortschreitenden Prozess der Verlustbewältigung wider und wurde oft erforscht. Obwohl jeder Mensch anders trauert und wir alle unterschiedlich lange brauchen, um einen Verlust zu verarbeiten, erleben viele Mütter und Väter und deren Familienangehörige die Phasen der Trauer auf sehr ähnliche Weise. Die Schweizer Psychologin Verena Kast z.B. beschreibt im Trauerprozess vier Phasen der Trauerbewältigung:
Die erste Phase beschreibt das Leugnen und Nicht-Wahrhaben-Wollen. Kast beschreibt den Schockzustand unmittelbar nach dem Tod des geliebten Menschen, des eigenen Kindes. Hier können Mütter und Väter nicht glauben, was passiert ist. Sie fühlen sich hilflos, verzweifelt sind zurückgelassen worden. Oft leugnen sie ihren Verlust. Alles nur ein böser Traum! Diese Trauerphase bildet den Anfang des Trauerprozesses. Sie beschreibt, dass dieser Zeitraum, wenige Stunden, oft aber auch Tage oder mehrere Wochen andauern kann.
In der zweiten Phase kommen Gefühle wie Wut unendlicher Schmerz und Zorn und andere aufbrechende Emotionen zum Tragen. Aggressionen gegen sich selbst, dem anderen Elternteil vielleicht sogar gegen das verstorbene Kind werden sichtbar. Viele werden auch von Schuldgefühlen oder der Frage geplagt, warum sie leben dürfen, während das geliebte Kind sterben musste. Wieso gerade musste mein Kind sterben? Diese Phase kann Wochen, Monate oder sogar Jahre dauern. Auch die Umstände des Todes können eine Rolle beim Verlauf dieser Trauerphase spielen und lassen die Frage nach dem Warum zum zentralen Mantra werden! Konflikte zwischen den Elternteilen können auflodern, Unverständnis, das der andere nicht dieselben Gefühle äußert, genauso denkt, genauso trauert. Das Gefühl von Einsamkeit in der Zweisamkeit! Eine Zerreisprobe mit ungewissem Ausgang!
Die dritte Phase spiegelt nach Kast die Innere Auseinandersetzung mit dem Verlust wider. In der Trauer findet eine innere Auseinandersetzung mit dem Tod des Kindes statt, d.h. es werden z.B. Orte aufgesucht, die gemeinsame Erinnerung wecken und gemeinsame Erlebnisse aufleben lassen. Vielleicht werden auch stille Zwiegespräche mit dem Kind geführt. Fragen, was aus dem Kinderzimmer, den persönlichen Besitztümern des Kindes wird. Es stellt ein sehr bewusstes Abschiednehmen dar und kann als entlastend aber auch als sehr schmerzhaft erlebt werden. Diese Phase kann Wochen, Monate oder gar Jahre andauern. Mütter und Väter sind auch hier unterschiedlich in der Verarbeitung. Die unterschiedliche Verarbeitung kann zu Spannungen in der Beziehung führen, falls es kein Verstehen im miteinander und wenig Akzeptanz für das Verhalten des anderen gibt. In dieser Phase wird die Entscheidung fallen, ob Mütter und Väter bereit sind den nächsten Schritt zu gehen und Ja zum (Weiter-) Leben sagen – oder ob sie weiter trauern.
In der vierten und letzten Phase entwickelt sich ein Neuer Selbst- und Weltbezug. Es stellt sich allmählich innerer Frieden ein. Der Schmerz tritt in den Hintergrund. Der Tod des Kindes ist akzeptiert und nun kann damit begonnen werden, Pläne zu schmieden und das Leben neu zu gestalten. Die Paar-Ebene und das Zusammenleben, wird neu definiert besonders auch dann, wenn weitere Kinder in der Familie leben, die ihren Bruder, ihre Schwester verloren haben Die Erinnerung bleibt jedoch ein zentraler Bestandteil davon.
Was bedeutet das für die Begleitung von Eltern nach dem tragischen Verlust des eigenen Kindes?
Für die Begleitung ist es herausfordernd!
Trauernde Mütter und Väter, sollten nicht allein gelassen werden (es sei denn, diese wünschen es ausdrücklich). In dieser ersten Zeit wird häufig Unterstützung gebraucht z.B. bei den Aufgaben des Alltags. Sie brauchen Menschen in ihrem Umfeld, die einen Blick auf die gesamte Situation haben und neben der Organisation des Alltags auch helfen, die Bestattung und Trauerfeier zu organisieren. Notwendig ist, dass Mütter und Väter ihren „Gefühlscocktail“ zulassen dürfen und Emotionen nicht unterdrücken. Zuhören und Anteil nehmen sind wichtige Wegbegleiter für die trauernden Eltern. Es braucht viel Zeit. In dieser Trauerphase kann der Lebensmut verloren gehen. Bei entsprechenden Äußerungen wird die Begleitung noch intensiver und sollte spätestens dann auch fachlich begleitet werden.
Seelsorger, Trauergruppen, Beratungsangebote bilden in unserer modernen Gesellschaft die sprichwörtliche Dorfgemeinschaft ab und sind neben Familie und Freundeskreis treue Wegbegleiter bei der Bewältigung von Verlust. Sie helfen dabei, die Energie der Trauer in neuen Lebensmut zu bahnen. Mütter und Väter, die ihr Kind verlieren, verlieren ihren Anker, der sie einst zur Familie werden ließ. In der Trauerbewältigung geht es um die neue Definition dieses Begriffs. Es geht darum, wie sie als Paar und Eltern weiter machen wollen. Es braucht Wissen, Toleranz und eine gemeinsame Sprache, den Trauerbewältigungsweg des anderen zu akzeptieren. Es braucht Ruhe und Zeit den gemeinsamen Weg auszuloten.
Lässt die Trauer einen nicht los, gibt es aus traumapädgogischer Sicht gute Gründe an ihr festzuhalten. Diese sollten professionell in den Blick genommen werden. Sich Hilfe zu holen ist eine enorme Stärke und kann helfen, diese guten Gründe aufzuspüren. Durch Unterstützung wird erarbeitet, welche guten Gründe es gibt, ein Ja zum (Weiter-) Leben im Jetzt zu entwickeln.
Mein Artikel nimmt die trauernden Eltern in Blick. Sind weitere Kinder in der Familie erweitert es selbstverständlich auch die Trauerarbeit. Geschwisterkinder brauchen auch all das Genannte und müssen unbedingt in den fürsorglichen Blick genommen werden.
Viel Raum für einen weiteren Artikel!
Das kostbarste Vermächtnis eines Menschen ist die Spur,
die seine Liebe in unserem Herzen zurückgelassen hat.
Irmgard Erath
Ein Gastbeitrag von:
Anja Brückner-Dürr
Dipl. Sozialpädagogin, Traumapädagogin, Mediatorin
www.praxis-lebengestalten.de
(Bildquelle: Shutterstock „Dragana Gordic“)